Freitag, 15. Juli 2016

Der Brexit – Alles nur halb so wild?

Die Veröffentlichung der Ergebnisse des Referendums in Großbritannien zum Ausstieg des Landes aus der Europäischen Union wirkte wie ein Paukenschlag. Reflexartig schwappte eine Welle der Empörung und nicht zuletzt der Anfeindung gegenüber den Briten quer über Kontinentaleuropa. Schnell wurden Forderungen nach einem drakonischem Ausscheiden der Abtrünnigen laut. Schließlich soll hier ein Exempel statuiert werden, sodass nicht der Anschein erweckt wird, man könne die EU nicht einfach wie einen beliebigen Verein verlassen. Europa steht eindeutig vor großen Herausforderungen. Doch der Weltuntergang ist noch nicht gekommen.



Der Faktor Zeit
Zahlreiche Politiker forderten Klarheit über die Folgen des Brexits und verlangten dabei eine offizielle Mitteilung beziehungsweise Absichtsbekundung über den Austritt an den Europäischen Rat. Vor allen Bundeskanzlerin Merkel sorgte dabei für Druck. Die Erklärung markiert eine wichtige Formalia. Zwei Jahre danach verlieren die Verträge der Europäischen Union bei dem austretenden Staat ihre Wirkung, es sei denn die diesbezüglichen Verhandlungen sehen eine andere Lösung vor.
Die neue Premierministerin Theresa May, die für einen Verbleib geworben hatte, wird jede Zeit brauchen. Eine Abkehr der Briten kann nicht über Nach geschehen. Eine Vielzahl ein engen Verknüpfungen und Verflechtungen Großbritanniens können noch ohne Weiteres zerschlagen werden. Es gilt, die die Premierministerin bereits deutlich machte, den Austritt vorzubereiten. Speziell die Auswirkungen in der Judikative für Unternehmen, aber auch Privatpersonen, gilt es klar herauszuarbeiten. Ebenso das Verhältnis zwischen der EU und ihren Mitgliedstaaten zu den abtrünnigen Briten. Dies gilt nicht nur auf der Ebene der Diplomatie oder der Wirtschaft. Auch die Säule der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik mit der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik gilt es pragmatisch zu koordinieren. Es stellt sich die Frage, welche Rolle Großbritannien im Rahmen der europäischen Sicherheitsarchitektur einnehmen wird.


Sicherheitspolitische Herausforderungen
Zweifelsohne dominierte das Nato-Bündnis, woran sich zeitnah wenig ändern wird, bislang die Verteidigung, dennoch gilt es, gerade in Angesicht einer sich permanent verändernden Welt, sich neu auszurichten. Europa selbst muss hier eine gestaltende Rolle, zumindest für sich und seine Hinterhöfe, über die bisherigen EU-Missionen und Manöver hinaus einnehmen. Großbritannien als ständiges Mitglied des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen und Atommacht muss dabei ein hohes Gewicht zukommen. Die Briten selbst haben durch das Referendum eventuell ihren Gestaltungsanspruch verspielt. Eine neue Rolle muss schnell gefunden werden


Europäische Bürger
Alleine in Deutschland leben und arbeiten über 100.000 Briten. Im gesamten Europa werden unlängst deutlich mehr Menschen von der Insel ihren derzeitigen Aufenthaltsort gewählt haben. Durch den Austritt ist deren Status unklar. Die Regelungen über Bleibe- und Arbeitsrecht liegen nicht klar vor. Vermutlich werden viele Auslandsbriten eine andere Staatsbürgerschaft anstreben, andere werden ihre neue Heimat wieder verlassen um zurückzukehren.
Umgekehrt stellt sich eine ähnliche Frage für alle in Großbritannien lebenden Ausländer. Ohne eine Garantie auf eine fortlaufende Arbeitnehmerfreizügigkeit gilt es auch für sie, sich rasch zu orientieren und bisherige Pläne zu überdenken. Da aber gerade die Freizügigkeit innerhalb der EU für große Emotionen bei dem Referendum führte und wahrscheinlich auch den Ausschlag gab, ist kaum mit einem befriedigendem Ergebnis in den Austrittsverhandlungen zu rechnen. Andernfalls müsste die neue britische Regierung sich über den Hauptstreitpunkt des eigenen Volkes hinwegsetzen.


Handel und Wirtschaft
Im Fokus des Brexit stehen vor allen die ökonomischen Folgen. Die Briten müssen eine Welle von Umzügen diverser Firmensitze befürchten. So hat etwa der Mobilfunkkonzern Vodafone bereits damit gedroht, die Insel zu verlassen. Auch der Finanzsektor könnte erheblich geschröpft werden, weil Banker den ungehinderten Zugang zur EU-Binnenmarkt durch den Brexit gefährdet sehen. Andere Metropolen wie zum Beispiel Paris oder Frankfurt haben bereits Werbekampagnen gestartet, um vom Exodus aus der Londoner City zu profitieren.
Doch auch die Industrie befürchtet große Verwerfungen. Vor allen die Automobilindustrie könnte betroffen sein. Besonders hart kann es deutsche Unternehmen treffen. Knapp 800.000 Fahrzeuge aus den Schmieden der Bundesrepublik wurden 2015 in Großbritannien abgesetzt. Dennoch produzieren auch viele Hersteller auf der Insel. Mögliche Handelsschranken in Form von Zöllen könnten die Produktion verteuern, ebenso wie den Export.
Hier muss in den Austrittsverhandlungen mit Augenmaß agiert werden. Eine Abstrafung fordert auf beiden Seiten hohe Kosten.

In aller Freundschaft und der Dominoeffekt
Zu guter Letzt bleiben die Briten uns doch als Partner auf zahlreichen weiteren Plattformen eng verbunden, gleich ob auf kultureller, ökonomischer oder politischer Ebene. Dennoch plädieren zahlreiche politischen Vertreter aus den EU-Staaten für eine schmerzhafte Lektion. Hauptsächlich liegt die Begründung in der Angst vor einem Dominoeffekt. Weitere Staaten könnten umkippen und sich von der supranationalen Organisation abwenden, insbesondere wenn die Briten gestärkt aus dem Austritt hervorgehen würden. Weiterhin spielt auch ein wenig gekränkter Stolz eine wichtige Rolle. Das Projekt eines geeinten Europas, wofür viele Politiker und Organisationen jahrzehnte lang leidenschaftlich gekämpft haben steht auf der Kippe.
Dennoch wird auch bei einer geordneten, rationalen Ausgliederung ein Zerfall der EU ausbleiben. Es ist den Akteuren sehr wohl bewusst, dass die Gestaltungsspielräume in einer globalisierten Welt, die sich derzeit in Wirtschafts-Blöcke aufteilt (Nordamerika, Südamerika, Asien mit dem Schwerpunkt China und Europa) für einzelne (kleine) Nationalstaaten schrumpfen. Die Definition und Bestimmung von (technischen) Normen, die Rechtssetzung in der internationalen Gerichtsbarkeit und die Durchsetzung von moralischen Werten kann nicht mehr alleine gelingen. Der vermeintliche Souveränitätsgewinn, den sich die Brexit-Befürworter erhoffen, verpufft auf diese Weise.


Glaubwürdigkeit – Die Welt dreht sich weiter
Das schwerwiegendste Problem in der Debatte ist der Verlust von Glaubwürdigkeit. Brexit-Befürworter und Gegner haben mit Extremen argumentiert. Plakativ: Migrantenflut gegen ökonomischen Ruin. Die Horrorszenarien sahen auf der einen Seite einen britischen Staat, der seiner Handlungsfähigkeit beraubt ist und von Ausländern überschwemmt wird, die Arbeitsplätze stehlen sowie die Sozialkassen plündern. Auf der anderen Seite wurde das Schreckgespenst einer zusammenbrechenden Volkswirtschaft gezeichnet.
Was fehlte, war der philosophische Hintergrund. Die Frage nach der zukünftigen Gestaltung des europäischen Kontinents, der Rolle von Nationalstaaten im internationalem Gefüge und nicht zuletzt die Bedeutung von Nationalstaatlichkeit an sich. Wollen Remain-Briten überhaupt Europäer sein oder nur vom Binnenmarkt profitieren?
Glaubwürdig konnten sich Europäer jedenfalls kaum präsentieren. Nicht das Wir-Gefühl stand im Mittelpunkt der Wahlkampagnen, sondern nackte Angst. Treffen die düsteren Prognosen nicht ein, erscheint ein möglicher Dominoeffekt wahrscheinlich. Nur wenige Stimmen konnten mit Sachlichkeit herausstechen, so etwa der Bundestagspräsident Norbert Lammert am Tag nach dem Referndum: "Großbritannien hat gestern darüber befunden, aus der Europäischen Union auszutreten. Dennoch ist die Sonne heute morgen wieder aufgegangen. Und so bedauerlich das eine ist, so beruhigend ist das andere."

Raus ist raus?
Einen Exit aus dem Brexit kann es nicht geben. Die Formel „raus ist raus“ wurde vor dem Referendum klar formuliert. Eine Entscheidung des Volkes, nachdem man diesem explizit die Wahlmöglichkeit gegeben hat, zu ignorieren oder so lange zurechtzubiegen, bis eine opportune Meinung die Mehrheit erlangt kann nicht demokratisch sein. Weitere Befragungen, Abstimmungen und dergleichen führen nur zu einem tieferen Riss in der Gesellschaft und beschädigen das Ansehen des westlichen Demokratieverständnisses.
Jedoch gibt es eine weitere Möglichkeit. Artikel 50 des EU-Vertrages besagt auch: „Ein Staat, der aus der Union ausgetreten ist und erneut Mitglied werden möchte, muss dies nach dem Verfahren des Artikels 49 beantragen.“



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