Der Faktor Zeit
Zahlreiche Politiker forderten Klarheit über die Folgen des Brexits und verlangten dabei eine offizielle Mitteilung beziehungsweise Absichtsbekundung über den Austritt an den Europäischen Rat. Vor allen Bundeskanzlerin Merkel sorgte dabei für Druck. Die Erklärung markiert eine wichtige Formalia. Zwei Jahre danach verlieren die Verträge der Europäischen Union bei dem austretenden Staat ihre Wirkung, es sei denn die diesbezüglichen Verhandlungen sehen eine andere Lösung vor.
Die neue Premierministerin Theresa May, die für einen Verbleib geworben hatte, wird jede Zeit brauchen. Eine Abkehr der Briten kann nicht über Nach geschehen. Eine Vielzahl ein engen Verknüpfungen und Verflechtungen Großbritanniens können noch ohne Weiteres zerschlagen werden. Es gilt, die die Premierministerin bereits deutlich machte, den Austritt vorzubereiten. Speziell die Auswirkungen in der Judikative für Unternehmen, aber auch Privatpersonen, gilt es klar herauszuarbeiten. Ebenso das Verhältnis zwischen der EU und ihren Mitgliedstaaten zu den abtrünnigen Briten. Dies gilt nicht nur auf der Ebene der Diplomatie oder der Wirtschaft. Auch die Säule der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik mit der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik gilt es pragmatisch zu koordinieren. Es stellt sich die Frage, welche Rolle Großbritannien im Rahmen der europäischen Sicherheitsarchitektur einnehmen wird.
Sicherheitspolitische Herausforderungen
Zweifelsohne dominierte das Nato-Bündnis, woran sich zeitnah wenig ändern wird, bislang die Verteidigung, dennoch gilt es, gerade in Angesicht einer sich permanent verändernden Welt, sich neu auszurichten. Europa selbst muss hier eine gestaltende Rolle, zumindest für sich und seine Hinterhöfe, über die bisherigen EU-Missionen und Manöver hinaus einnehmen. Großbritannien als ständiges Mitglied des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen und Atommacht muss dabei ein hohes Gewicht zukommen. Die Briten selbst haben durch das Referendum eventuell ihren Gestaltungsanspruch verspielt. Eine neue Rolle muss schnell gefunden werden
Europäische Bürger
Alleine in Deutschland leben und arbeiten über 100.000 Briten. Im gesamten Europa werden unlängst deutlich mehr Menschen von der Insel ihren derzeitigen Aufenthaltsort gewählt haben. Durch den Austritt ist deren Status unklar. Die Regelungen über Bleibe- und Arbeitsrecht liegen nicht klar vor. Vermutlich werden viele Auslandsbriten eine andere Staatsbürgerschaft anstreben, andere werden ihre neue Heimat wieder verlassen um zurückzukehren.
Umgekehrt stellt sich eine ähnliche Frage für alle in Großbritannien lebenden Ausländer. Ohne eine Garantie auf eine fortlaufende Arbeitnehmerfreizügigkeit gilt es auch für sie, sich rasch zu orientieren und bisherige Pläne zu überdenken. Da aber gerade die Freizügigkeit innerhalb der EU für große Emotionen bei dem Referendum führte und wahrscheinlich auch den Ausschlag gab, ist kaum mit einem befriedigendem Ergebnis in den Austrittsverhandlungen zu rechnen. Andernfalls müsste die neue britische Regierung sich über den Hauptstreitpunkt des eigenen Volkes hinwegsetzen.
Handel und Wirtschaft
Im Fokus des Brexit stehen vor allen die ökonomischen Folgen. Die Briten müssen eine Welle von Umzügen diverser Firmensitze befürchten. So hat etwa der Mobilfunkkonzern Vodafone bereits damit gedroht, die Insel zu verlassen. Auch der Finanzsektor könnte erheblich geschröpft werden, weil Banker den ungehinderten Zugang zur EU-Binnenmarkt durch den Brexit gefährdet sehen. Andere Metropolen wie zum Beispiel Paris oder Frankfurt haben bereits Werbekampagnen gestartet, um vom Exodus aus der Londoner City zu profitieren.
Doch auch die Industrie befürchtet
große Verwerfungen. Vor allen die Automobilindustrie könnte
betroffen sein. Besonders hart kann es deutsche Unternehmen treffen.
Knapp 800.000 Fahrzeuge aus den Schmieden der Bundesrepublik wurden
2015 in Großbritannien abgesetzt. Dennoch produzieren auch viele
Hersteller auf der Insel. Mögliche Handelsschranken in Form von
Zöllen könnten die Produktion verteuern, ebenso wie den Export.
Hier muss in den Austrittsverhandlungen
mit Augenmaß agiert werden. Eine Abstrafung fordert auf beiden
Seiten hohe Kosten.
Zu guter Letzt bleiben die Briten uns doch als Partner auf zahlreichen weiteren Plattformen eng verbunden, gleich ob auf kultureller, ökonomischer oder politischer Ebene. Dennoch plädieren zahlreiche politischen Vertreter aus den EU-Staaten für eine schmerzhafte Lektion. Hauptsächlich liegt die Begründung in der Angst vor einem Dominoeffekt. Weitere Staaten könnten umkippen und sich von der supranationalen Organisation abwenden, insbesondere wenn die Briten gestärkt aus dem Austritt hervorgehen würden. Weiterhin spielt auch ein wenig gekränkter Stolz eine wichtige Rolle. Das Projekt eines geeinten Europas, wofür viele Politiker und Organisationen jahrzehnte lang leidenschaftlich gekämpft haben steht auf der Kippe.
Dennoch wird auch bei einer geordneten, rationalen Ausgliederung ein Zerfall der EU ausbleiben. Es ist den Akteuren sehr wohl bewusst, dass die Gestaltungsspielräume in einer globalisierten Welt, die sich derzeit in Wirtschafts-Blöcke aufteilt (Nordamerika, Südamerika, Asien mit dem Schwerpunkt China und Europa) für einzelne (kleine) Nationalstaaten schrumpfen. Die Definition und Bestimmung von (technischen) Normen, die Rechtssetzung in der internationalen Gerichtsbarkeit und die Durchsetzung von moralischen Werten kann nicht mehr alleine gelingen. Der vermeintliche Souveränitätsgewinn, den sich die Brexit-Befürworter erhoffen, verpufft auf diese Weise.
Glaubwürdigkeit – Die Welt dreht sich weiter
Das schwerwiegendste Problem in der
Debatte ist der Verlust von Glaubwürdigkeit. Brexit-Befürworter und
Gegner haben mit Extremen argumentiert. Plakativ: Migrantenflut gegen
ökonomischen Ruin. Die Horrorszenarien sahen auf der einen Seite
einen britischen Staat, der seiner Handlungsfähigkeit beraubt ist
und von Ausländern überschwemmt wird, die Arbeitsplätze stehlen
sowie die Sozialkassen plündern. Auf der anderen Seite wurde das
Schreckgespenst einer zusammenbrechenden Volkswirtschaft gezeichnet.
Was fehlte, war der philosophische
Hintergrund. Die Frage nach der zukünftigen Gestaltung des
europäischen Kontinents, der Rolle von Nationalstaaten im
internationalem Gefüge und nicht zuletzt die Bedeutung von
Nationalstaatlichkeit an sich. Wollen Remain-Briten überhaupt
Europäer sein oder nur vom Binnenmarkt profitieren?
Glaubwürdig konnten sich Europäer
jedenfalls kaum präsentieren. Nicht das Wir-Gefühl stand im
Mittelpunkt der Wahlkampagnen, sondern nackte Angst. Treffen die
düsteren Prognosen nicht ein, erscheint ein möglicher Dominoeffekt
wahrscheinlich. Nur wenige Stimmen konnten mit Sachlichkeit
herausstechen, so etwa der Bundestagspräsident Norbert Lammert am
Tag nach dem Referndum: "Großbritannien hat gestern darüber
befunden, aus der Europäischen Union auszutreten. Dennoch ist die
Sonne heute morgen wieder aufgegangen. Und so bedauerlich das eine
ist, so beruhigend ist das andere."
Einen Exit aus dem Brexit kann es nicht
geben. Die Formel „raus ist raus“ wurde vor dem Referendum klar
formuliert. Eine Entscheidung des Volkes, nachdem man diesem explizit
die Wahlmöglichkeit gegeben hat, zu ignorieren oder so lange
zurechtzubiegen, bis eine opportune Meinung die Mehrheit erlangt kann
nicht demokratisch sein. Weitere Befragungen, Abstimmungen und
dergleichen führen nur zu einem tieferen Riss in der Gesellschaft
und beschädigen das Ansehen des westlichen Demokratieverständnisses.
Jedoch gibt es eine weitere
Möglichkeit. Artikel 50 des EU-Vertrages besagt auch: „Ein
Staat, der aus der Union ausgetreten ist und erneut Mitglied werden
möchte, muss dies nach dem Verfahren des Artikels 49 beantragen.“
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